Glück ist: Finden ohne zu suchen

Zum Abschluss.

Glück ist: Finden ohne zu suchen.
Serendipity in China.





Im alten Königreich von Ceylon, das jetzt Sri Lanka heisst und kein Königreich mehr ist, aber ganz, ganz früh einmal Serendip hieß, lebte der König mit seinen drei Söhnen so lange glücklich und zufrieden, bis die drei herumquengelten, dass sie mal woanders frühstücken wollten. Und so schickte der alte König die Prinzen in die Welt. Damit die Jungs aber die Zeit nicht vergeudeten und das für ihre Erziehung aufgewändete Geld wieder zum Teil ins Staassäckel zurückflösse, gab er ihnen ein paar Aufgaben zur Erledigung mit. Die drei zogen also los, die Zeit verging – und als sie, älter und weiser geworden, nach Serendip zurückkehrten, hatten sie alles Mögliche erledigt, bloss nichts von ihren eigentlichen Aufgaben – statt dessen hatten sie viel entdeckt, das zu entdecken sie nicht vorgehabt hatten.

Auf diese hübsche Geschichte stieß der englische Schriftsteller Horace Walpole, und er schrieb am 18. Januar 1754 an einen Freund: "So eine Entdeckung, welche sich nebenbei ergibt, möchte ich also 'Serendipity' nennen. Wahrlich, ein äußerst ausdrucksvolles Wort." Auf diese Begebenheit stieß ich im Internet, als ich auf der Suche nach der Geschichte des Prinzen Dorgon war (der als Prinzregent und Feldherr in der Mitte des 17. Jahrhunderts den Grundstein für die Qing-Dynastie in China legte, die die Ming-Kaiser ablöste – aber das ist eine andere Geschichte, die will woanders erzählt werden ...). So jedenfalls fand ich rein zufällig und ohne jegliche Zielstrebigkeit (was ja in der Natur seiner Sache liegt): das Prinzip von Serendipity. Bei der Rückschau auf mein China-Jahr, der ich mich naturgemäss jetzt zuwende, fand ich Serendipity-Überraschungen zu Hauf. Um wieviel ärmer wäre ich ohne diese Zufälle gewesen. Von zweien möchte ich hier erzählen.

Ich bin auf den Besuch der berühmten Marco-Polo-Brücke eingerichtet und sitze im altmodischen Doppeldeckerbus Nr. 7, der mich schnell aus der Beijinger Innenstadt hinausbringt. Die Brücke heisst auf chinesisch Lúgōuqiáo 卢沟桥,Brücke über den Lu-Graben. Wir haben sie nach dem genannt, der sie uns über seine Reiseerzählungen bekannt gemacht hat. Die Chinesen erinnert sie an den 7.7. Gemeint ist der 7. Juli 1937, als hier ein Schusswechsel zwischen chinesischen und japanischen Soldaten den Beginn des japanischen Grossangriffs auf Beijing initiierte. Dass hinter der hübschen Steinbrücke, mit ihren Hunderten von Löwenstatuetten über einen Fluss gebaut, der jetzt ausgetrocknet ist, so dass das kleine Holzboot unter dem Brückenbogen friedlich im Grünen schlummert, eine richtige kleine Stadt mit einer intakten Stadtmauer liegt, war eine feine Überraschung. Beijing besitzt nur noch Reste seiner alten Stadtumgrenzung, wenn auch imposant und von einigen überlebenden Wachtürmen beschützt. Doch hier, zwar heute zum Verwaltungsgebiet von Beijing gehörend, aber noch vor wenigen Jahrzehnten jenseits seiner Stadtmauer gelegen, fand ich Wănpīng 宛平 in der Nachmittagssonne. Ich bin auf der Mauer einmal im Quadrat gelaufen, habe in einen Schulhof voller Dattelbäume und kreischender Kinder geguckt, die apfelsinenfarbenen Kürbisse auf den roten Dächern betrachtet und ein großes Loch in der Mauer gefunden: Das, so belehrt mich ein Hinweisschild, sei durch ein japanisches Geschoss verursacht worden, am 7.7. Die Nachmittagssonne scheint immer noch, auf dem Schulhof ist es inzwischen still geworden, und gleich ist mein Mauerspaziergang beendet. Ich habe unbeabsichtigt eine Lektion in chinesischer Geschichte erhalten.

Ich hatte mir vorgestellt, im Laufe meines chinesischen Jahres ein Plätzchen der Ruhe und des Friedens in einem Tempel zu finden, und war nicht vorbereitet, auf der grössten Baustelle der Welt zu wohnen, die auch Gotteshäuser, Tempel, Moscheen, Klöster umfassen würde. Hinter den roten, grauen und gelben Mauern der Heimstätten für Buddha, die christliche Dreifaltigkeit, den Jadekaiser und Allah wird genau so gebohrt und gehämmert wie vor meiner Haustür. Das stille Plätzchen finde ich am Bābăoshān 八宝山, dem Acht-Schätze-Berg im Westen der Stadt. Dort liegt der riesige Friedhof, der nur zum chinesischen Totensonntag, dem Qīng-Míng-Fest (清明节) im 3. Mondmonat (also im April, nach unserem Kalender), von vielen Chinesen besucht wird. So aber, in der herbstlich warmen Nachmittagssonne, bin ich allein auf meiner grünen Bank. Endlich Ruhe. Endlich Leere im Kopf. Und dann Nachdenken über die gerade gemachte Entdeckung: Mein chinesischer Name Wèi魏 steht an einem einzigen Grab, in Rot, etwas ungelenk an den Rand des Betonsteins gepinselt; das kommt meiner chinesischen Unterschrift sehr nahe. Ich habe zunächst nicht Ausschau gehalten nach Namen, sondern nur festgestellt, dass alle Grabsteine ausschliesslich mit chinesischen Zeichen beschriftet sind, sogar die Jahreszahlen - mit einer Ausnahme. Da steht: "1930–1959余德瑾同志墓", also: "1930-1959 Grab von Genossin Yú Dé Jĭn". Und plötzlich finde ich nebenan meinen Namen, mit vielen Wangs, Lius, Changs und Zhangs drumherum, aber keinem weiteren Wei. Für einen verwirrenden Moment habe ich den Eindruck, dass etwas von mir hier auf mich gewartet hat. Dass ich schon da bin, bevor ich ankomme. Und dass ich hier noch sehr lange sein werde, nachdem ich gegangen bin. O, ewich is so lanck. Und immer noch scheint die Nachmittagssonne.

Es bietet sich vielleicht bald eine ungesuchte, aber doch gefundene Gelegenheit, Ihnen/euch weiterhin monatliche Berichte aus Asien zu bescheren, wenn auch vorläufig nicht mehr aus China (nur Geduld – o, ewich is so lanck). Merke: Du sollst dich oft verlaufen, auf die Vogelstimmen hören, die kleinen Wunder einfangen und in der Speisekarte das Unbekannte auswählen – und schon macht dein kleines Herz einen Sprung und die Welt dreht sich für dich um ein Viertelgrad in eine andere Richtung. Und du kommst zurück nach Serendip, voller Überraschungen.

zai jian.
Wei aus Beijing.
13. Oktober 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Die Goldene Woche

Oktober 2006.

Die Goldene Woche.
Mit der Familie in die Provinz.





Am 1. Oktober 1949 war Mao Zedong sehr zufrieden, als er auf den damals noch nicht so ordentlich gepflasterten Platz des Himmlischen Friedens vom Tian'anmen-Tor hinabblickte und die Gründung der Volksrepublik China verkündete. Jetzt hängt nur wenig unter seinem damaligen Standort ein großes Portrait von ihm, und er selbst darf sich aus seinem Mausoleum auf selbigem Platz nicht mehr wegbewegen. Aber alljährlich wird seiner Zufriedenheit gedacht: Der 1. Oktober ist der chinesische Nationalfeiertag, und eine ganze Nation ist auf den Beinen zu Verwandtenbesuchen. Die Kinder haben eine Woche schulfrei und die Unis keine Vorlesungen. Und wer es sich auf der 24-Stunden-Baustelle "neues China" leisten kann, legt eine einwöchige Ruhepause ein, die "Goldene Woche" genannt wird. Allerdings ist hier "Ruhepause" nicht mit "Erholung" gleichzusetzen, siehe unten.

Meine chinesische Familie nimmt mich mit auf die Reise. Die Mutter meiner Freundin hatte sich 40 Jahre nicht in ihrer alten Heimat in der Provinz Hénán 河南blicken lassen - ein guter Grund, dies jetzt zu tun, wenn alle anderen Chinesen ebenfalls herumfahren.
Merke:
1. Wenn du in China mit der Bahn unterwegs sein willst, so tue dies am besten dann, wenn zum Frühlingsfest Ende Januar/Anfang Februar, zum Tag der Arbeit am 1. Mai oder zum Nationalfeiertag am 1. Oktober Millionen ebenfalls die Bahnhöfe bevölkern – nie mehr wirst du sagen können, dass alle Chinesen gleich aussehen!
2. Reise auch mit möglichst viel Gepäck und vergiss ja nicht, drei lebhafte Kinder mitzunehmen – so wird es niemals langweilig werden!
All diese guten Ratschläge befolgen wir, und so habe ich eine unterhaltsame Bahnreise und eine Woche lang Familie satt. Bei dem Empfangsessen erklärt der 5. jüngere Bruder der Mutter bedauernd, es hätten leider nicht alle zur Begrüßung kommen können. Von den fast 70 engsten Blutsverwandten (alle von Papas Seite her mit dem Namen Zhou, den auch seine Tochter, also die Mutter meiner Freundin, trägt) sitzen nur 58 an den runden Tischen um uns herum.

In meinem Reiseführer steht, dass hier ganz in der Nähe am Gelben Fluss die kurzfristig herrschende Nördliche Zhou-Dynastie (557 bis 581 n. Chr.) ihre Hauptstadt hatte. Ob ich hier also unter des Kaisers Nachfolgern sitze? Kaiserlich ist nicht nur die Bewirtung mit Speisen aus der Gegend und aus der Jahreszeit (Pilze, Kräuter, Wildschwein, Flussfisch), sondern auch das Programm. Denn wir sind ja nicht zur Erholung, sondern zur Erbauung hier. Während meines Chinesisch-Unterrichts hatte ich schon gelernt, dass "pá shān" 爬山Bergbesteigung heisst (erstaunlicherweise bedeutet "pá" eigentlich "kriechen", so dass "pá shān" wörtlich übersetzt "den Berg bekriechen" heisst – davon kann hier aber keine Rede sein). So ist die viele Kraft, die das Festessen bescherte, für den Funiushan Geo-Nationalpark西峡伏牛山国家地质公元 zwingend erforderlich. Was für eine Natur ich Stadtkind da bestaunen kann! Kahle Felsen, bewaldete Hügel, Wasserfälle ohne Ende, gurgelnde Bächlein – und blauer Himmel, den ich seit Monaten in Beijing nicht mehr zu Gesicht bekam – und so viel Luft, die ich einfach einatmen kann ohne Hustenanfall und ohne Befürchtung einer sich zukünftig entwickelnden Staublunge!

Aber ich "pa shane" ja auf chinesisch. Da ist für einfaches Staunen nicht viel Zeit. Auf vorgegebenen Steinwegen, auf in die Felsen geschlagenen Treppen und auf Stelzen erbauten Stegen am Berghang geht es hopp-hopp hintereinander weg durch die Landschaft, der es ziemlich wurscht ist, ob man sie mit offenem Mund bestaunt oder nicht. Auch hier sind wir im Schwarm der Goldenen-Woche-Reisenden. Genießen will man schließlich in der Gruppe. Und zum Genießen gehört das Glück der lieben Kleinen. Wenn die Fischlein im Bach ausreichend bestaunt und die Hügel endlich erklommen sind (wie gut, dass ich Berliner-Altbau-trainiert bin, 4. Stock, ohne Aufzug), können die Kinder auf einer Betonrutsche (kaschiert als bunter Drachenleib) ins Tal hinuntersausen, während die Eltern das lustige Treiben fotografieren und dann, ungeachtet des Ziehens in der Wade (au weia – am nächsten Morgen ...) und des verdächtigen Knirschens in der Kniescheibe (von meinem Hüftgelenk will ich erst gar nicht reden ...), die Treppen im Gänsemarsch bedächtig hinabsteigen. Der 9-jährige Sohn meiner Freundin springt mir von unten entgegen und kichert: "Du bist ja ganz rot im Gesicht!" Gutes Kind, denke ich, wenn du wüsstest, wie stolz ich auf mich bin, dass ich nicht einfach am Wegesrand liegen geblieben und still verendet bin ...

Dann bietet sich aber eine Gelegenheit, dass ich mich plötzlich ganz jung auf dieser Erde fühle. Denn wir sind in einer Landschaft, die vor Millionen von Jahren geformt worden ist und die über einen einmaligen Schatz verfügt: versteinerte Dinosaurier-Eier. Die können wir sogar anfassen, während wir in den Berg hineinwandern, in dem die Eier zufällig entdeckt worden sind. Auf der Leinwand des 4D-Kinos nebenan (die vierte Dimension wird durch ruckelnde Sitze geboten, vergleichbar einem Eisenbahnwaggon mit kaputter Bremse, auf die ich aus rückentechnischen Gründen gern verzichtet hätte) werden die aus den Eiern geschlüpften Vorzeit-Wesen plastisch zum Leben erweckt. Ich bin irgendwie froh, im 21. Jahrhundert zu leben. Das ist schon anstrengend genug, bietet mir aber eine gewisse Überlebenschance, die ich zwischen diesen Riesenviechern mit unfreundlichem Gesichtsausdruck nicht gehabt hätte. Es gibt danach ein Foto der Kinder auf einem Tyrannosaurus Rex (aus Plaste) - und endlich, endlich Abendessen.

Bei der Heimfahrt schleppen wir fast noch mehr als wir mitgebracht haben. Geschenke, Geschenke, Geschenke – und Proviant. Wieviel Kinder essen können und so ziemlich ohne Pause, war mir in Vergessenheit geraten. Also sind wir wieder in einem Abteil auf Tuchfühlung mit ähnlich bepackten Heimreisenden und produzieren bald Unmengen von leeren Verpackungen, Bonbonpapier, Nudelsuppen-Pappbechern, Plastikflaschen – und natürlich Sonnenblumenkern-Schalen. Als schliesslich die Musikberieselung aufhört und die Beleuchtung um 22.00 Uhr abgedreht wird, strecke ich meine gut trainierten Beine aus und erfreue mich meines Liegeplatzes. Am Gelben Fluss steht die Wiege der chinesischen Nation, meine ist hier im Zug und schaukelt mich langsam in Träume von Dinosauriern mit Schlitzaugen und plätschernden Wasserfällen, als der Zug ruckartig auf einem Nebengleis hält, um einen Schnellzug vorbeizulassen. Bahnfahren in China ist – außer in Shanghai – eine langwierigere Angelegenheit als Bergbesteigungen in der Provinz Henan.

zai jian.
Wei aus Beijing.
7. Oktober 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Horror vacui

September 2006.

Horror vacui.
Wenn die Urlaubsfotos verlöschen.





Weg ist weg, und ich kann niemandem zeigen, wie sich Sūzhōu 苏州und Hángzhōu 杭州 im östlichen China durch meine Kameralinse ansehen. Mein "erster Urlaub" in China ist optisch inexistent (denke ich) – für ein Augentierchen wie mich ein wahres Drama. Wer löst das digitale Verschwinde-Rätsel, verursacht durch einen mysteriösen Fotochip der Firma Kingston ("Made in Taiwan" – ob das hier von Bedeutung ist ...)? Nicht nur ließ der Chip die auf ihm gespeicherte Urlaubswelt bei der Übertragung auf die Festplatte ins digitale Garnichts verschwinden, er nahm gleich noch ein paar der anderen China-Fotos mit, obwohl er mit denen nix zu tun hatte, denn sie waren bereits auf meinem Computer gespeichert. Da stehe ich mit gesenktem Haupt abbitteleistend vor meiner kiloschweren Leica (die ich zugunsten des Digi-Leichtgewichts zu Hause in Beijing gelassen hatte) und kämpfe mit den Tränen wie ein vierjähriger Trotzkopf, der seine Bonbons in den Gully hat fallen lassen. Aber Würde-hätte-sollte ist alles für geschenkt. Die Wasser- und Gartenstädte, die ich während meiner vierwöchigen Reise so ins (fotografische) Herz geschlossen habe, sind Tausende von Jahren gemalt, bedichtet und schließlich auch fotografiert worden, die Essenz ihrer Schönheit überlebte Bürgerkriege, Naturkatastrophen und Moderni-sierungskampagnen. Und so werden sie mir irgendwann – vielleicht mit einer Memory Card aus der Volksrepublik China – mehr Glück als Hobbyfotografin gewähren. Schluck. Angeblich ist ja das Herz ohnehin die beste Kamera, die Erinnerung macht alles um so schöner. Trotzdem: Ich möchte die kleinen optischen Highlights, die nicht in den käuflich zu erwerbenden Bildbänden abgedruckt sind, zeigen und nicht nur beschreiben:

In der kleinen Gasse am trauerweidenüberschatteten Kanal stehen sie vor den Hauseingängen und trocknen in der Sonne dem abendlichen Geschäft entgegen. In Suzhou sind die Nachtöpfe majestätisch groß familiengerecht, aus stabilem Holz, rostrot oder dunkelbraun, mit Deckel und Tragehenkel ausgestattet. Wer sie nicht kennt, weiß nicht um ihre Aufgabe und hält sie womöglich für Gurkenfässchen. Das moderne Suzhou mag sie verleugnen und sich ihrer durch eifrige Neubautätigkeit entledigen. Aber es gibt sie noch. Fremder, wenn du nach Suzhou kommst, geh an der Nordpagode und dem Garten des Bescheidenen Beamten (!) vorbei nach Osten – am Stadtgraben wirst du die alten weißen Häuser mit den grauen Dachziegeln und geschwungenen Dächern finden, wo im Sommer die Kürbispflanzen gelbe Blüten treiben und sich hinaufwinden neben der Haustür und wo die alten Leute auf der Straße in kleinen Stühlchen hocken und beim Kartenspiel über dies und das philosophieren, während sich die Nachbarin nebenan die Haare in einem Eimer wäscht und ihr kleiner Sohn auf seinem Plastikdreirad seine Runden dreht, immer ganz dicht bis an den Kanalrand hinan. Und irgendwo spielt die kleine Nachtmusik, ganz leise, denn sie ist ja nur ein Klingelton auf einem Nokia ...

Wenn man den promenadenumarmten Westsee in Hangzhou mit dem Bus 27 Richtung Westen verlässt und an den teebuschbewachsenen Hängen angekommen ist (hier wird der weltberühmte Drachenbrunnentee angepflanzt), kommt man zum Zhejiang-Hotel (浙江宾官). Wie üblich, erlebe ich es im Totalumbau, alles staubt und hämmert. An mir vorbei laufen zielstrebig Einheimische, um sich vor einem Panzer der Volksarmee fotografieren zu lassen. Ich folge ihnen zu einem Kellertor und laufe die Stufen hinab. Es ist angenehm kühl und unangenehm muffig. Es tropft von den Wänden, und endlichendlich öffnet sich eine Tür in einen großen Raum, ausgestattet mit Telefonen, altmodischen Funkanlagen und einer riesigen Kalligrafie an der Wand: "Hoch lebe Mao Zedong, tausendfach hoch" steht da so, dass sogar ich es lesen kann. Unterschrift unleserlich, aber ich weiß: Die Lobeshymne stammt aus dem Pinsel von Lín Biāo 林彪, dem designierten Nachfolger von Máo Zédōng 毛泽东, der jedoch (offizielle Lesart) seine eigenen Pläne mit der Partei und der Zukunft Chinas hatte und 1971 bei der Flucht in die Sowjetunion mit der gesamten Familie in einem Flugzeug über der Mongolei abstürzte, Ursache ungeklärt. Hier also bin ich im unterirdischen Zentrum seiner (geplanten) Macht, überirdisch zu betrachten sind die Wohn- und Arbeitsräume in viel rotem Plüsch und wieder einem "wàn suì, wàn suì, wàn wàn suì" 万岁万岁万万岁für Mao Zedong (wörtlich: "tausend Jahre, tausend Jahre und noch einmal tausend Jahre", womit man im alten China den Kaiser ehrte) an der Wand. Mit dem mir selbst gegebenen Versprechen, meine historischen Wissenslücken umgehend zu füllen, laufe ich erleichtert in die Frischluft, vorbei an Bambus und Teebusch, zur Bushaltestelle.

Nachdem ich das jetzt alles aufgeschrieben habe, packt mich der Ehrgeiz. Meine Fotos können nicht einfach "weg" sein. In der berühmten Beijinger Einkaufsstraße Wángfŭjĭng 王府井gibt es doch alles – ja, aber offenbar keinen Computerladen. Dort steht jedoch das Crowne Plaza Hotel, Eigenwerbung: "the place to meet", für mich: "the place to ask". Denn ich bekomme auf meine Frage nach einem Computerladen eine korrekte Antwort, nicht von den Herren an der Rezeption, sondern von einem der sogenannten Pagen. Auf englisch heißen die "bell hop", d.h. "Glockenhüpfer", und sind also jemand, der diensteifrig einherzuspringen hat, wenn man nach ihm klingelt. Der hiesige "bell hop" sprang jedoch nicht, sondern schlenderte gemächlich heran, als er meine Frage hörte, und kritzelte dann etwas auf einen Zettel, nämlich den Namen eines PC-Ladens. Den Zettel werde ich mir jetzt wohl einrahmen – denn ich fand den Laden und darin einen freundlich bebauchten Verkäufer mit Englischkenntnissen. Der überspielte zwei Programme, "Ontrack Crisis Center" und "Easy Recovery Professional". Während des Arbeitsprozesses stand mein Computer zwischen seinen käuflichen Artgenossen im Regal (so schief, dass ich Angst hatte, er könne auf den Boden rutschen und dort kläglich verglühen). Ich verstehe ja anerkanntermaßen nichts von dieser Technik; so ist es vielleicht keine Zauberei, dass zwei Drittel der verschwundenen Fotos wieder auftauchten. Zwei Drittel! Die hölzernen Nachttöpfe aus Suzhou und die geheime Befehlszentrale von Lin Biao sind dabei: alles wieder zum Angucken und in Farbe! In der Zukunft – so der nette Verkäufer – könne ich ja alles Verschwundene selbst wieder herstellen, denn die Recovery-Programme habe er mir dauerhaft installiert. (Ich hielt die Luft an, als er im Betriebssystem des PC dieses und jenes veränderte ...) Und was das kostet? Mmmh, er überlegt: Ob 100 Yuan (ca. 11 Euro) zuviel wären?

Aus meiner Schulzeit kann ich mich nur noch an ein Gedicht erinnern, das mich seitdem freundschaftlich begleitet:

"nicht müde werden
sondern dem Wunder
wie einem Vogel
die Hand hinhalten"

Da sitzen sie nun also auf meiner Handfläche und kichern, Schulter an Schulter, meine kleinen chinesischen Überraschungen: wer weiss ...

zai jian.
Wei aus Beijing.
4. September 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Ich bin (nicht) krank

August 2006.

Ich bin (nicht) krank.
Kontakte mit dem chinesischen Gesundheitssystem.





Als ich zwölf Jahre alt war, verließ mich mein Blinddarm. Diese, meine einzige, Krankenhauserfahrung fiel in die Adventszeit und dauerte wenige Tage. Beim Schmücken des Weihnachtsbaumes hatte ich bereits eine hübsch verheilte Narbe und gute Erinnerungen an die frischen Orangen, die mir meine Eltern in die Kinderstation mitgebracht hatten. Über Krankenhäuser in Deutschland weiss ich also wenig. In Beijing kenne ich aus Patientensicht bereits mehrere, wobei ich einige meiner Erfahrungen mit Sicherheit mit allen Krankenhausinsassen unseres Erdballes teile, andere sind wohl recht chinesisch. Welche welche sind, mögen die mit mehr Insiderwissen entscheiden.

Bevor ich meine Studien an der Beijing Foreign Studies University aufnehmen durfte, schickte mich die Studentenbetreuerin erst einmal in ein Krankenhaus ans Ende der Stadt zur Untersuchung meiner Studientauglichkeit. Auf einem Zettel der Größe 2 x 2 cm hatte sie mir die größtmögliche Anzahl von Schriftzeichen gekritzelt mit der Behauptung, es handele sich um die Adresse des Krankenhauses. Damit hatte sie offenbar nicht gelogen, denn der Taxifahrer lieferte mich vor einem weiß gekachelten Gebäude ab, in dem viele griesgrämig aussehende Menschen vor vielen Schaltern anstanden, husteten und mit Papieren raschelten. Nachdem ich diverse 100-Yuan-Scheine einem Schalterbeamten überreicht hatte, stellte mir ein älterer Arzt, der keiner Fremdsprache mächtig war, einige Fragen. Ich antwortete ins Ungefähre, was ihn manchmal zu einem Lächeln veranlasste. Er stellte mich auf die Waage und ließ mich etwas unterschreiben, worauf wir uns ausführlich über meine "schöne Handschrift" unterhielten. Wie gut, dass ich meinen chinesischen Namen schon damals auswendig schreiben konnte. Daraufhin bestätigte er mir, dass mein Blutdruck OK sei und meine Brille ausreichend. Schließlich wurde ich geröntgt (auf einem Röntgenbild sind meine Ohrringe zu sehen) und für das Erlernen der chinesischen Sprache für tauglich erklärt.

Diese Tauglichkeitserklärung und das Lob meiner Handschrift nahm ich in der Folgezeit derartig ernst, dass ich es wohl mit dem Schreiben ein wenig übertrieben habe. Als ich dann das Handgelenk so gar nicht mehr richtig bewegen konnte und es sich ballonartig zu verformen begann, selbstdiagnostizierte ich eine Sehnenscheidenentzündung, die mit dem Tigerbalsampflaster aus der Apotheke nicht mehr zu beheben sei. Das Pflaster verursachte nur unschön aussehende rote Pusteln, obwohl mir der jugendliche Apotheker die "jahrtausendealte Rezeptur" wärmstens empfohlen hatte. Wahrscheinlich rächte sich das Pflaster bei mir für die lange Wartezeit, weil es vergeblich Jahrtausende auf einen armen Patienten gehofft hatte. Also besuchte ich das kleine Krankenhaus, das der Universität angegliedert und gleichzeitig für die ärztliche Versorgung der Nachbarschaft zuständig war. Die resolute Rezeptionistin entschuldigte sich bei meiner Registrierung, sie müsse mir eine Einschreibgebühr in Höhe von 3 Yuan abnehmen, da ich eine Studentenkrankenversicherung nicht vorweisen könne. (3 Yuan sind 35 Cents.) Zur Untersuchung rief mich ein freundlicher älterer Arzt in das Behandlungszimmer, das er mit einem Kollegen und diversen Kranken teilte. Eine Frau, die bisher komatös auf einer Liege geruht hatte, wurde plötzlich sehr lebendig und wandte sich interessiert unserer Unterhaltung zu. Auch der Kollege, der mit einem Ehepaar beschäftigt war, unterbrach seine Tätigkeit, so dass ihm und seinen Patienten nichts von meiner Leidensgeschichte ("ah, endlich, eine Ausländerin!") entging. Nachdem diesmal alle meine Handschrift begutachtet hatten ("sie muss den Oberstrich bei dem Zeichen 'Wei' länger machen ... aber das 'Lin' ist recht hübsch, mit dem Jade-Zeichen ist es sehr feminin ..."), die ich unter Schmerzen produziert hatte, und der Arzt meine Hand so lange geknetet hatte, als wolle er sie wie einen unreifen Apfel vom Gelenk pflücken, bekam ich ein Rezept für eine Spritze (5 Yuan), über deren Verabreichung ich lieber schweige. Jedenfalls kann ich jetzt wieder einwandfrei ein Schreibwerkzeug halten. Das kleine Krankenhaus mit seinem anteilnehmenden Publikum wird mir in guter Erinnerung bleiben.

Ebenfalls gute, ja sogar allerbeste Erinnerungen – auch in kulinarischer Hinsicht – habe ich an das Chao Yang-Krankenhaus. Der Weg dorthin war so verschlungen, dass ich ihn kaum ohne langweilige Details beschreiben kann und deshalb weglasse. Jedenfalls war ich dort, um mir einen Herzkatheter legen zu lassen. Nur eine solche Koronarangiographie (uff!) konnte angeblich ernsthafte Erkrankungen meiner Herzgefäße ausschließen, die sich bei einer Routineuntersuchung in Form von Herzrhyth-musstörungen (die ich bis heute nicht gehabt zu haben glaube, aber sei's drum) andeuteten. Der deutsche Botschaftsarzt legte mir ans Herz (jawohl, an mein angeblich krankes), die Untersuchung nicht in Beijing durchführen zu lassen. Das machte mich nachdenklich. Deshalb besuchte ich meine Lieblingstempel (inzwischen einige) in dieser schönen Stadt und entschied, dass mein Chinesisch ausreichend sei, um dem untersuchenden Arzt im Falle des Falles zu bedeuten, ich würde mich nicht mehr so wohlfühlen ("bu tai shu fu"). Als ich dann unter lauter grünen Tüchern gebettet lag und mich zehn Paar Mandelaugen über weißen Masken ansahen (warum sind Chinesen immer so viele?), war mir tatsächlich etwas plümerant, aber für "bu tai shu fu" war ich zu abgelenkt. Ich kam mir vor wie in einer deutschen Soap Opera ("Schwester Brigitte" oder so ähnlich): Die Ärzte unterhielten sich über das Mittagessen (liebe Fremdsprachen-Uni, ich habe doch etwas bei dir gelernt!), während ich auf dem Monitor neben mir mein Herzchen ordnungsgemäß pumpen sah. Mittagessen! Jawohl: Seit 7 Uhr (ohne Frühstück) hatte ich auf diversen Stühlchen gewartet, bis ich endlich hier zu liegen kam – und nun musste es wohl schon Mittag sein. Als der 1,08 m lange Draht aus meiner Arterie gezogen war, ging alles richtig schnell. Ich wurde auf einen Rollstuhl verfrachtet und ins Zimmer nebenan gerollt, wo es bereits köstlich duftete. Bittermelone, Schweinerippchen, Pilze in Kräutersauce, Sichuan-Fisch, Spinat mit Knoblauch – von allen Köstlichkeiten reichte mir eine Schwester jeweils einen Bissen auf mein Reis-Schälchen. Obwohl mir die Stäbchen ziemlich in der malträtierten Hand zitterten, war das wohl eine meiner köstlichsten Mahlzeiten in China. Und nicht nur, weil mir der untersuchende Arzt (mit vollem Mund) erklärte, ich hätte das Herz eines 20jährigen (!) Mannes (!), das höchste Lob, das in China für ein Herzchen ausgesprochen werden kann. Sondern auch, weil chinesisches Essen auch im Krankenhaus sehr, sehr lecker ist. Guten Appetit!

zai jian.
Wei aus Beijing.
21. Juli 2006.

© Mimi Productions
秘密出品

Großstädtisches Kleingewerbe

Juli 2006.

Großstädtisches Kleingewerbe.
Der Lebensunterhalt vom Bürgersteig.





Die neue Ökonomie und das verordnet Hartzige ändern auch in Deutschland die kleingewerbliche Landschaft. Denke ich. Was ich hier beobachtet habe, ist möglicherweise demnächst auch in Potsdam Realität und ruhegehaltsanrechnungsfähig bzw. rentenanspruchsunerheblich, je nach Entwicklungsstand unseres Sozialrechts. Wir müssten bis dahin allerdings unsere Bürgersteige so ordentlich fegen lernen, wie es hier zum Alltag gehört. Die Geschwader der blaugewandeten Besenschwinger (so stand es vor kurzem in der Zeitung) arbeiten eine lockere Sechs-Tage-Woche über und zwar von 8.00 bis 20.00 Uhr, wofür sie (umgerechnet) staatlich garantierte 60 Euro bekommen (und wahrscheinlich auch die Arbeitskleidung, ein Rest von Ameisen-Indigo aus den vormarktwirtschaftlichen Lagerbeständen). Sie haben reichlich Gelegenheit für Zigarettenpausen (natürlich im Hocken) und Schwätzchen mit den an der Bushaltestelle Wartenden: "Ach tatsächlich – dir ist schon zum dritten Mal der Bus wegen Überfüllung weggefahren? Würde mir nicht passieren – guck mal, ich habe hier meinen Besen, mit dem würde ich ..."

Auf dem relativ besenreinen Bürgersteig vor dem U-Bahnhof Xīzhīmen西直门 sitzt die alte Dame auf ihrem Stühlchen (Sitzhöhe: 25 cm über der Erdoberfläche) und häkelt. Ich kenne sie jetzt seit einem halben Jahr. Sie ist emsig wie eine Großmutter, die für das werdende Enkelchen die ersten Strümpfe fabriziert. Und Garne in zauberhaften Baby-Farben benutzt sie auch. Die fertigen Produkte breitete sie bereits auf gestrigem Zeitungspapier um sich herum aus, und schon begibt sich die Kundschaft zu Preisverhandlungen in die Hocke. Die Häkelwerke ließen mich zunächst etwas ratlos. Aber es gibt offenbar einen Markt dafür. Denn was so aussieht wie deutsche Klopapierrollenverhüllungen für die hintere Ablage im Kleinwagen - mit zusätzlichen Henkeln -, das hat einen vergleichsweise enormen Gebrauchswert: Es handelt sich um Portemonnaie-Tragetaschen, auf die wir ja schon so lange gewartet haben. Also, Männer, wenn ihr euch nicht mehr den Geldbeutel aus der Gesäßtasche klauen lassen wollt, hier ist die Alternative!

Ein paar Ecken weiter packt der Straßenfriseur aus. Er hat im Korb seines Fahrrads alles verstaut, was er braucht, und das ist nicht viel. Am umständlichsten zu transportieren war der Spiegel, und der Klappstuhl baumelt noch am Lenker. Ein Kunde muss sitzen können, aber das mit dem Spiegel ist kein Muss, eher ein Hauch von Luxus (und ein Vorteil gegenüber dem Konkurrenzfriseur): Wenn der Spiegel am Nagel an der Hauswand hängt, kann der Kunde ausführlich beraten werden. Ohren frei oder lieber doch halb bedeckt? Und wie wär's mal mit einem flotten Linksscheitel? Bloß auf die Haarwäsche muss der Kunde verzichten. Dafür ist so ein Freiland-Friseurbesuch in wenigen Minuten absolviert. Da es so schnell geht, gibt es natürlich auch keine Winterpause. Wenn's kühl wird, trägt der Friseur Handschuhe (die mit den vorn abgeschnittenen Fingerspitzen), nach dem Sandsturm sah ich ihn mit Mundschutz – aber draußen bleibt draußen. Und munter weht der Wind davon, was abgeschnitten zu Boden fiel. Ich weiss nicht, wie preiswert es noch werden kann: Ich zahle für einen Drinnen-Haarschnitt (mit 30minütiger Rückenmassage vorneweg und aufwändigem Haargespüle, einmal vor dem Schneiden, einmal danach) 1,50 Euro (umgerechnet) ...

Auch als Masseur schleppt man seine Utensilien mit sich herum: ein Hockerchen (Marke Anglerklappstuhl) und ein Tuch. Denn der Straßenmasseur braucht kein Massageöl. Der Kunde muss auch nichts ausziehen. Die Massage entfaltet ihre Tiefenwirkung, auch wenn sie als Oberflächenbehandlung erscheint. Ich habe das von einem experimentierwilligen Freund ausprobieren lassen, und das ging so: Der Masseur legte sein mäßig blütenweißes Massagetuch auf die zu knetenden Stellen (anything goes: Kopf, Schultern, Oberarme, Unterschenkel) und fing dann ohne Vorwarnung an zu klopfen, tupfen, reiben, kreisen. So geschützt bleibt die Kundenbluse, -hose etc. sauber, wenn auch nicht faltenfrei, und der Masseur muss sich für einmassierten Umweltdreck nicht entschuldigen. Mein Freund schnurrte während der Behandlung wie ein Kätzchen ...

So, jetzt brauche ich noch etwas Leckeres als Nachtmahl. Des Abends beziehen die Obsthändler mit ihren Karren Stellung vorm Eingang der Uni. Darauf freue ich mich: Die Mango-Zeit hat begonnen, auch die Pfirsiche sind lecker. Und wie hätte ich den Winter ohne meine abendliche Ananas von hier überstehen können! Den Straßenhändlern sei Dank.

zai jian.
Wei aus Beijing.
28. Juni 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Wieder daheim

Juni 2006.

Wieder daheim.
Das hatte mir dann doch gefehlt.





Überraschend und angenehm kurzweilig war mein nicht eingeplanter kurzfristiger Deutschlandaufenthalt. Zu meiner großen Verwunderung fremdelte es nicht wie befürchtet, es war sogar richtig nett! Allerdings ist mir nirgendwo ein zur Adoption freigegebenes oder heimatloses Sitzmöbel untergekommen, das sich über meine Aufmerksamkeit gefreut hätte. (Wie schön, dass sie alle, alle hier zu meiner Begrüßung herumstanden!) Ich bin froh, wieder im Fernen Osten daheim zu sein, und das liegt nicht nur am Wetter. Es blühen die Stockrosen, womit für mich der Sommer in Beijing beginnt. Die jungen Damen stöckeln in Karo-Stoff-Stiefeln und Blümchen-Mini mit Fransen einher, die jungen Herren schlurfen in Plastiklatschen oder staubigen schwarz-spitzigen Schuhen herum, und die Alten sind wie immer auf der Straße und schwatzen und spielen Schach.

Woran merke ich sonst, das ich wieder zu Hause bin? Zunächst sind die in Deutschland überflüssigen Fluchtreflexe im Beijinger Straßenverkehr ("Hennen rennen") überlebenswichtig. Wie gut, dass ich mich in Berlin durch hektische Panoramablicke lächerlich gemacht und folglich nichts verlernt habe. Der aus DDR-Zeiten hierher übernommene "grüne Pfeil" lässt mich Straßen vorzugsweise bei Rot (für Fußgänger) überqueren, weil das sicherer ist. Was von rechts und links herangebraust kommt, kann ich so besser überschauen als die Um-die-Ecke-Sauser in meiner Grün-Phase, die nämlich auch die ihre ist.

Endlich kann ich mich wieder am heiteren Handy-Klingel-Töne-Raten beteiligen. Und zwar flächendeckend überall und zu jeder Uhrzeit. War das nun ein Takt aus der Kleinen Nachtmusik, gefolgt von zweien aus "O du fröhliche"? Oder doch ein koreanisches Popmedley, kurz unterbrochen von den drei Tenören (oder fünf Tenören)? Aber nein, das Gegurgele ist ja bereits das Gespräch, für alle in adäquater Lautstärke zum Mithören und Anteilnehmen dargeboten. " Wèi, wèi, nĭ hào 喂喂你好 – sprich lauter, wer ist denn dran?" Und schon flötet und glockt und paukt es aus einer anderen Hand- oder Hosentasche. Ach, Musik ist doch etwas Schönes, und nichts ist allein deshalb gut, weil es in Maßen genossen wird!

Das Einsteigen in Bus und U-Bahn ersetzt mir wieder den täglichen Leistungssport, obwohl die Belastung (Ellenbogen und Fäuste) auf die Dauer wohl etwas einseitig ist. Aber auch Geschick wird verlangt, wenn man zu den acht Aussteigenden gehört, die sich gegen die dreisten zwölf gleichzeitig Einsteigenden durchsetzen wollen. Richtig Spaß macht das natürlich erst, wenn man reichlich mitschleppt. Ich habe es ohne eine größere Verpackungshilfe (Holzkiste, Drahtkorb) geschafft, einen Strauß von weißen Lilien (duftstark, ansonsten von eher zarter Konstitution) sowohl heil in einen vollbesetzten Bus hinein- als auch wieder hinauszutransportieren. Der Trick: Ich schwang mich zu voller Größe von 164 Zentimetern auf, hielt das Transportgut mit beiden Händen fest über den Kopf (Umfallen war eh nicht möglich) und schlängele mich durchs Gedränge Richtung Ausstieg, freundliches Kopfnicken nach rechts und links bei eventuellem Fehltritt nicht vergessen.

Die Schrift auf Straßenschildern und Werbeträgern entbehrt wieder ihrer Allgemeinverständlichkeit. Es macht mir Freude, wie im Vorschulalter auf Fotos und Zeichnungen zu achten, und zum Glück gibt es noch andere Wiedererkennungseffekte. Da hat sich eine große Getränkefirma für die Farbe Rot und die andere große Getränkefirma für die Farben Blau-Weiß auf ihren Cola-Flaschen entschieden. Allerdings werben beide mit recht gleich (ähnlich?) aussehenden 20jährigen Pop-Ikonen, die aus Film und Fernsehen bekannt sein sollen, so Ā Wèi (man erinnert sich: wir lernen Tandem-Englisch-Chinesisch). Wie ein Kind zeige ich auf die Flasche, die ich glaube haben zu wollen. Die kleine Sprachbehinderung ist hoffentlich vorübergehender Natur.

Und an die Stelle von deutschen schwarz-weißen Fussbällen und mit schwarz-weißen Fußbällen geschmückten unnützen Dingen wie Sammelbildchen und Schlüsselanhängern ist hier der farblich identische National-Pandabär gerückt. Der möchte nicht mit dem WM-Ball verwechselt werden (was nur im Falle des Berliner Fernsehturm-Schmuckes ausgeschlossen ist) und steuert daher weiter zielstrebig die Verwirklichung seines größten Wunsches an - ein Farbfoto von sich. Ansonsten ist alles schön bunt hier – endlich wieder daheim!

zai jian.
Wei aus Beijing.
2. Juni 2006

© Mimi Productions
秘密出品

In der Hocke

Mai-Spezial 2006.

In der Hocke.
China aus der Froschperspektive.





Der Polizist brüllt aus vollem Hals und hebt die Hand zum vernichtenden Schlag. Der Verbrecher hat schon verloren, er hockt zu Füßen des Gesetzeshüters und hält schützend die Arme über den Kopf. Die Kamera fährt zurück. In dem kleinen Raum befinden sich insgesamt fünf unglückliche Gestalten in ähnlicher Körperhaltung am Boden, wie kleine nasse Vögelchen, in Schach gehalten von einem einzigen, erhabenen Uniformierten (und dem Kameramann, der sich Mühe gibt, dass sein Schatten nicht auf die beeindruckende Szene fällt, Untertitel: "Unsere Polizei hat in der Provinz X im Dorf Y eine Bande von Geldfälschern festgesetzt, die unserem Volk einen Schaden von Z Renminbi zugefügt hat"). So gesehen auf dem täglich ausgestrahlten Polizeiprogramm von cctv 12 (China Central Television), dessen staatlich verordnete Aufgabe es ist, dem Volk das Rechtssystem so nah wie möglich zu bringen. (cctv hat insgesamt 17 Themen-Programmsender, die fast überall gesehen werden können: Nachrichten, englischsprachige Sendungen für Ausländer, Kinderprogramme, Serien und Filme, Neuigkeiten von der Armee und der Landbevölkerung, Sport und Unterhaltung. Daneben gibt es Regionalprogramme wie z.B. BTV [Beijing Television], die sich bis auf Staumeldungen und Wetterberichte nur unwesentlich unterscheiden. Werbung gibt es – erstaunlicherweise – auf allen zu sehen.)

Dass ich die Beijinger Bestuhlung bemerkenswert finde, habe ich schon ausführlich dargestellt. Eine in China fast noch häufigere Körperstellung als das Sitzen in der freien Natur ist das Hocken. Schon in zartem Kindesalter hocken die lieben Kleinen überall herum. Sie buddeln hockenderweise, trotzen den Eltern in dieser Haltung das zweite Eis ab und wachsen so langsam in das Alter hinein, in dem sie in dieser Körperstellung Zeitung lesen können. Das dazu erforderliche Wissen umfasst 2.000 Schriftzeichen, denn jedes Zeichen steht für einen Begriff bzw. ein Wort. (Ein Oberschüler sollte seine 4.000 Zeichen beherrschen, bevor er auf die Uni wechselt.) Auch die arbeitende Bevölkerung ist derart hockend tätig: beim Warten an der Bushaltestelle, in der Mittagspause vor dem Geschäft beim Suppelöffeln, beim Schach- und Kartenspiel (nur die Mahjongg-Anhänger kommen ohne Tisch nicht aus) und bei der Fahrradreparatur. Gewerbsmäßig hocken die Reparateure am Straßenrand mit ihren erstaunlichen Werkzeugen, ihren musealen Luftpumpen und der unerlässlichen Wasserschüssel zur Erprobung des Luftentweichungsgrades der Fahrradschläuche, Knie an Knie mit den Kunden, gemeinsam über den unbrauchbaren Drahtesel gebeugt. Oder sie hocken einfach so. Die ohne spezielle Aufgabe Hockenden platzieren sich leicht erhöht auf Mäuerchen und Böschungen und gucken aufmerksam in die Gegend, wobei sie damit etwas ungemein Erdmännchenhaftes haben. (Hinweis: Im Berliner Zoo am Kleinen Nachttierhaus kann man diese possierlichen Nager aus Afrika betrachten und wird sofort verstehen, was ich meine.)

Die für die Boulevardpresse interessante Toilettenfrage (warum gibt es keine Trennwände?) muss ich unbeantwortet lassen, aber auch auf öffentlichen Toiletten ist eine gewisse Hockfertigkeit von enormem Vorteil. Es wurde sogar berichtet, dass auf Toilettenbrillen der Air China-Maschinen Schuhsohlenabdrücke gefunden worden sind, weil eine Gewohnheit eben eine Gewohnheit ist, im Himmel wie auf Erden.

Zum Schluss noch eine kleine Geschichte. Sitzt ein Frosch am Grunde seines Brunnens und langweilt sich. Kommt ein Vogel geflogen und setzt sich auf den Brunnenrand: "Puh, war das anstrengend – zwei Tage bin ich am Himmel entlanggeflogen!" Sagt der Frosch: "Alles Blödsinn – so groß ist der Himmel doch nicht. Ich betrachte ihn, solange ich lebe – der füllt bloß die Brunnenöffnung aus, also exakt 1,69867 Quadratmeter." Moral von der Geschichte: Eine Dauer-Hockstellung ist zwar nicht lebensgefährdend, erzeugt aber profunde Bildungslücken bei ansonsten beeindruckendem Detailwissen.

zai jian.
Wei aus Beijing.
7. Mai 2006

© Mimi Productions
秘密出品

An die Sonne, an die Freiheit

Mai 2006.

An die Sonne, an die Freiheit.
Die Blumentopf-Jahreszeit beginnt.





Als ich am 17. April zur morgendlichen Grammatikstunde loszog, fand ich meinen Schulweg mit einem feinen, roten Staub überzogen. Ein heftiger Hustenanfall machte mir klar, dass meine Atmungsorgane mit ihrer Staubsaugerfunktion nicht einverstanden waren und ich gerade an und im eigenen Leib meinen ersten chinesischen Sandsturm (auf chinesisch heisst er korrekt "Sand-Staub-Sturm",shā chén bào 沙尘暴) erfahren hatte. Beijing verstaubt – das Fernsehen berichtete unentwegt. Aber schon einen Tag später hatten Schwärme von blaugewandeten, besenbewaffneten, feudel-schwingenden Putzmännern und –frauen die Stadt wieder entstaubt. Und nicht nur das: Zugleich mit dieser Säuberungsaktion war der Blumentopf aus dem Exil zurückgekehrt und hatte sich sein Territorium in der Stadt zurückerobert.

Meine erste nennenswerte Begenung mit einem chinesischen Blumentopf war eine Fernbeziehung von ca. 10 m Länge. Da sass ich bei meiner ersten China-Reise zu Schiff eingezwängt zwischen fülligen deutschen Touristen und hatte es langsam satt, ihren Reiseerlebnissen über ägyptische Pyramiden und Sonnenuntergänge am Äquator zu lauschen. Mein Blick wanderte über das trübe Wasser des Kaiserkanals und fiel auf ein langes, schmales Holzboot mit Tuck-Tuck-Außenbordmotor. Am Heck stand ein sehr kleines Mädchen, daneben ein noch viel kleinerer Hund. Das Mädchen bohrte sich intensiv in der Nase und guckte kritisch, der Hund guckte nicht ganz so kritisch und wedelte mit dem Schwanz. Neben dieser Idylle – die ich ansonsten vergessen hätte - stand ER, majestätisch aus blau-weißem Porzellan, dreimal so umfangreich wie kleines Mädchen und kleiner Hund zusammen, intensiv in der Sonne glänzend. Viel zu groß für das Boot und viel zu edel, eine erhabene Kostbarkeit, eine Perle auf dem Kartoffelacker und doch ein Mitglied der chinesischen Familie, auf das nicht und unter keinen Umständen verzichtet werden kann: der Blumentopf. Er barg eine rote Blume, so schön wie die des kleinen Prinzen, und zog langsam, langsam an mir vorbei.

Seitdem habe ich zu meiner Freude überall in China Blumentöpfe getroffen. Sie beleben große und kleine Schiffe, stehen in Reih und Glied vor dem Shaolin-Tempel, schmücken die Wandelgänge der Großen Halle des Volkes, weisen den Weg zur Ruhestätte des Großen Steuermannes, kuscheln sich leer und übereinandergestapelt durch den Winter und entzücken jetzt mit ihren bunten Ranunkelchen die Besucher im Botanischen Garten. Bunt kostümierte Kinder platzieren sich dazwischen, heben mit viel Gebrüll ihre Zeige- und Mittelfinger zum Sieges-V hoch und werden von begeisterten Vatis und Omis mit der Digikamera hundertfach abgelichtet. Die Töpfe überleben diese und andere Anstürme in erdverbundener Gelassenheit. Sie wissen: Ihre Umgebung und ihr Inhalt sind vergänglich, aber sie werden wieder und wieder geputzt, mit Leben gefüllt, geleert, gestapelt und Jahr um Jahr in den chinesischen Alltag integriert. In den Hutongs, den kleinen Gässchen in der Beijinger Altstadt, stehen sie jetzt in Scharen vor jeder Haustür: Die Blumentopf-Familie ist ein platzsparender Vorgarten-Ersatz.

Für Bildungsbeflissene: Der Baum-Winzling, den wir für eine japanische Eigenart halten, hat natürlich seinen Ursprung im Land der Mitte. Er heisst auf chinesisch "pén zāi" 盆栽: "pén" ist der Topf und "zāi" heisst pflanzen. Unschwer lässt sich die japanische Sprachvariante "bonsai" heraushören, die wir kennen und für die authentische halten. Der chinesische Begriff ist nämlich als Lehnwort ins Japanische übernommen worden, wurde dort weiter kultiviert und kam als Modeartikel mit Sushi, Sony und Manga in den Westen. Den Botanikern unter uns ist das chinesisch-japanische Kauderwelsch allerdings egal; Hauptsache, die Topfkreatur behält ihre Miniaturform. Denn ein Bonsai ist nicht etwa eine besonders klein gezüchtete Pflanze, sondern ein "normaler" Baum, der allein intensiver gärtnerischer Maniküre seine topfgerechte Größe verdankt.

zai jian.
Wei aus Beijing.
27. April 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Schulalltag

April 2006.

Schulalltag.
Erstes Semester an der Bei Wai.





Die Beijinger Universität für Fremdsprachen, abgekürzt "Bĕi Waì" 北外 ("Bĕi" für "Beijing" und "Wài" für Fremdsprachen) ist die renommierteste Hochschule für das Erlernen von Sprachen in der Volksrepublik China. Hier können die 4.500 chinesischen Studenten zwischen 31 Fremdsprachen wählen (u.a. Albanisch, Bulgarisch, Burmesisch, Khmer, Polnisch und Singhalesisch) und die 500 Ausländer Chinesisch (vor allem Mandarin, d.h. Hochchinesisch) lernen. Die Uni beschäftigt 540 Dozenten/Professoren und hat - wie alles in China - eine "lange Geschichte", worauf die Chinesen stolz sind. Aber im Vergleich zu der sonstigen 4.000jährigen Geschichte ist die Bei Wai quasi ein Kleinstkind. Sie wurde 1941 zur sprachlichen Ausbildung der Diplomaten noch in Yan'an, dem Hauptsitz der Kommunistischen Partei in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, gegründet und kurz nach Gründung der Volksrepublik 1949 in die Hauptstadt verlegt.

Das didaktische Konzept ist für westliche Menschen wie mich allerdings reichlich gewöhnungsbedürftig. Der Lehrer liest vor, die Klasse wiederholt, bis die Bücher zugeklappt werden und der für mich schwierigste Part beginnt: das auswendige Aufsagen. Wer mit katholischen Riten vertraut ist, dem wird das Vorsprechen und Nachbeten kaum Probleme bereiten, wenn es auch manchmal unerwünschte Nebenwirkungen produziert. Ist erst einmal der Akzent des Lehrers fest verankert (und ich bin heilfroh, dass mein Lehrer aus Beijing und nicht Guangzhou kommt), gibt es kein Zurück mehr. Das Lokalkolorit bleibt erhalten bis zum Löschen der gesamten Festplatte, i.e. bis zur Einäscherung. Ich werde also niemandem sagen müssen, wo ich meine wunderbare Aussprache gelernt habe – in der Hauptstadt natürlich, die berüchtigt dafür ist, an alles mögliche ein amerikanisch gerrrrolltes R anzuhängen. (Exkurs: Es sind die Japaner, die kein R sprechen können!)

Natürlich probiere ich mein Chinesisch nach dem Unterricht gezielt an Freiwilligen aus. Mein Lernpartner ist 18 und hat den schönen Namen "Ā Wèi" 阿维, was soviel heisst wie "A der Bewahrende". Bei mir bewahrt er in erster Linie die Contenance. So zuckt er mit keiner Wimper, wenn ich aus einer "Frage" 问 (wèn, 4. Ton) einen "Kuss" 吻 (wĕn, 3. Ton) mache. Aber er lässt mir den faux pas nicht durchgehen. Und so sitze ich denn da und wiederhole ein "wen" in allen Tonlagen, bis mein jugendlicher Nachhilfelehrer zufrieden mit mir ist. Er weiss auch, dass ich mich notfalls an ihm rächen kann – denn nach einer Stunde Chinesisch bastele ich an seiner englischen Aussprache herum. (Die übrigens – inklusive der leichten amerikanischen Färbung – ziemlich passabel ist. Der arme Kerl muss sein Lehrbuch über englische, irische und amerikanische Geschichte und Kultur auswendig lernen – ja ehrlich, einfach mal so 500 Seiten!)

Schreiben ist nicht unbedingt einfacher für mich. Besonders quälend finde ich "Schreiben nach Diktat". Während ich noch über die ersten Wörter nachdenke (war da nun ein Wasserradikal drin oder ein Herzradikal? und wo kommt der Punkt und wo der Querstrich hin?), ist der zweite Satz von meinen japanischen Mitschülern schon aufs Papier gemalt. Auch bei A Wei geht ohne Schreiben rein gar nix. Eine nur kurze Frage meinerseits erzeugt ein eifriges Gekritzel seinerseits. So erhielt ich von ihm auf eine dahingeworfene Bemerkung über die Bedeutung der chinesischen Geschichte (sehr, sehr wichtig!) flächendeckend alle Dynastien bis zum Ende des chinesischen Kaiserreiches 1911 und sämtliche Feiertage der Volksrepublik (auch solche, die aus politischen Gründen nicht mehr "so" gefeiert werden wie z.B. Maos Geburtstag) auf einem DINA A7-Zettel (beidseitig beschrieben). Leider hatte A Wei in seiner Begeisterung vergessen, den Bleistift während des Schreibanfalls anzuspitzen. Ich bin daher nicht mehr so sicher, ob ich die Westliche Han-Dynastie (206 v.Chr. – 24 n.Chr.) und die Östliche Han-Dynastie (25 – 220 n.Chr.) auf dem Zettelchen werde unterscheiden können. Aber ein Kunstwerk ist es allemal!

zai jian.
Wei aus Beijing.
2. April 2006

© Mimi Productions
秘密出

Sitzmöbel im Frühling

März 2006

März-Spezial.
Sitzmöbel im Frühling.





Im Winter standen sie bloß herum und erweckten meine generelle Neugier. Ich dachte, es handele sich bei den einsam frierenden Sitzmöbeln um ausrangierte Mitbewohner, die von ihren finanziell erstarkten Eigentümern durch modische Sitzgelegenheiten des schwedischen Einrichters ersetzt worden seien. Dem ist aber nicht so. (Exkurs: Das Elch-Möbelhaus heißt hier in phonetischer Adaption "Yí Jiā Jiā Jū" 宜家家居, übersetzt: "Passendes-Wohnen-Wohnhaus". Das einzige Zugeständnis, das die kleveren Skandinavier ihrem Gastgeberland machen, ist ein kleines Regal mit bunten Ess-Stäbchen aus Plastik - neben rostfreien Edelstahl-Messer-Gabel-Löffeln. Ansonsten ist alles wie immer bei IKEA.)

Dass die Freiland-Stühle eine wichtige stadtplanerische und soziale Funktion erfüllen, konnte ich jetzt in der Frühlingssonne studieren und mit eigenen positiven Erfahrungen untersetzen. Zum einen verlaufe ich mich hinter dem Bahnhof Xīzhīmen西直门auf dem Heimweg nie wieder – ich muss einfach bei dem schwarzen Esszimmerstuhl mit blauem Bezug links abbiegen. Zum andern kann ich mir endlich die etwas zu engen, aber schön-genug-billigen Schuhe kaufen, denn an jeder Straßenecke lässt sich auf einem herumstehenden Sesselchen eine Pause für die Blasen einlegen.

Der Straßen-Stuhl an sich ist mir inzwischen ein dankbares Studienobjekt geworden und hat meine Fotosammlung "Beijings Flora und Fauna" um eine weitere Spezies (wenn auch eine – hoffentlich! - weder aussterbende noch allzu seltene) erweitert. Ich zähle zu meinen Sammelobjekten die folgenden Freiland-Schönheiten:
- das oben erwähnte schwarz lackierte Modell (an farblich passender blauer Stahltür), das mir so gute Dienste bei der Orientierung leistet,
- ein schlankes Holzgestell aus der Sammlung "Kleiner Wachsoldat" (es steht neben dem Eingang zu meiner Uni, aber noch nie konnte ich einen Uniformierten bei einer Ruhepause darauf ertappen),
- ein spilleriger Bürodrehstuhl auf drei Rollen und einem Krüppelfüßchen, abgestellt in einem Vorgarten (wahrscheinlich ist er gerade vom Dienst freigestellt wie ich, gesundheitlich aber erheblich schlechter beisammen),
- eine Familienidylle, bestehend aus sechs verschieden großen Holzsitzmöbeln in kunstvoller Verschränkung (entdeckt unter einer Teppichstange auf meinem Campus, neben einem lebensgroßen Hirsch aus Pappmaché),
- eine plüschige Wohnlandschaft inklusive Chaiselongue (!) mit rotem Designer-Bezug "Sonne, Mond und Sterne",
- ein Höckerchen für Kleinstkinder und Zwerghunde, frühes 21. Jahrhundert, von seinen Verwandten (siehe oben) getrennt und irgendwie unglücklich wirkend.
Und So Weiter.

Das Tolle an den Beijinger Sitzmöbeln ist aber, dass sie nicht einfach herumstehen. Sie nehmen am Leben teil und bieten dem Beijinger in seiner beschränkten Wohnmöglichkeit eine räumliche Extension, die für den kontaktfreudigen Stadtmenschen von größter Nützlichkeit ist. Da ist zum Beispiel der rote Samtsessel, Modell "Präsident", an der kleinen Tankstelle. Wenn der immer fröhlich pfeifende Tankwart mal keine Kundschaft hat, knallt er sich – natürlich mit Zigarette – aufs rote Polster. Es vergehen kaum zwei Minuten, da gesellt sich schon der Nachbar dazu (schließlich hat der Sessel eine Sitzfläche für einen europäischen Hintern und somit genug Platz für zwei kleinere asiatische Ausgaben). Nach weiteren fünf Minuten tauchen drei Zugucker auf, die sich drumherum stellen: Wer sitzt, spielt Schach; und wer steht, ist Kiebitz.

In den 60er Jahren war die "Möblierung der Städte" ein emotionsgeladenes westdeutsches Stadtplaner-Thema. In Beijing wird nicht darüber diskutiert, sondern fröhlich auf der Straße gelebt. Das macht jetzt um so mehr Freude, je mehr die Sonne herauskommt. Über die Frühjahrssandstürme berichte ich später.

zai jian.
Wei aus Beijing.
14. März 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Nicht nur zur Frühjahrszeit

März 2006

Nicht nur zur Frühjahrszeit.
Eine Stadt im Putzrausch.





Bevor er mir zu Augen kommt, kann ich ihn bereits hören: Jeden Morgen gegen 7.00 Uhr macht es "plitsch-platsch-wutsch" an meiner Tür. Dann weiss ich: aha – die morgendliche Putztruppe ist wieder ausgeschwärmt und zieht kilometerlange nasse Streifen durchs Haus, erst dicht an der Wand, dann hinüber und herüber, ohne Atempause. Dass das Ding mal ausgespült wird, ist mir zwar noch nicht zu Augen gekommen, wohl aber nicht völlig ausgeschlossen. Wichtig ist ja nur die feuchte Spur als Beweis erfolgter Sauberkeitsbemühung. Der Feudel am Stil (so eine Art Wischbesen) ist Beijings liebstes Innenraum-Putzinstrument und folglich nicht nur in meinem Studentenwohnheim, sondern in der gesamten Hauptstadt pausenlos im Einsatz.

Am Feudel kommt hier niemand vorbei. Und es ist gut, ein paar Sätze der Feudelsprache zu verstehen. Wenn der Feudel in der Toilette des Museums ganz plötzlich einen Einsatz hat, ist das einfach nett gemeint und will sagen: Wir wollen, dass du dich auch hier wohl fühlst – vor dem Ausrutschen bewahrt dich ja ein Schild (an der Wand steht in großen chinesischen Schriftzeichen gut lesbar für den, der's lesen kann: "nasser Fußboden"). Wird einem kurz nach 13.00 Uhr in einem Restaurant um den Stuhl herum gefeudelt, heißt das: Wir sind ein staatlich geführtes Unternehmen - nicht aufessen, sondern aufstehen und gehen – Mittagspause, Personal schließt jetzt. Feudelt es einem vor den Füßen herum in einem der neuen schönen Geschäfte, wird damit angedeutet: Hey du Ausländer/in, guck dir mal deine staubigen Schuhe an, wir sind hier ein Geschäft für die nouveaux riches UNSERES Landes – und DU gehörst offenbar nicht dazu ...

Der Feudel an sich ist ein ganz passabler Geselle. Ich habe ihn auch schon bei Freizeitaktivitäten ertappt, wenn er sich in jeder erdenklichen Stellung an die Wand lehnte, tiefgefroren über dem Gartenzaun hing oder sich im Hauseingang von der Frühjahrssonne lieblich erwärmen ließ. Meistens aber ist er fleißig und sogar zum Autowaschen – eher wohl: Autowischen – zu gebrauchen. Dabei erfordert das wegen seines langen Stiels fast gymnastische Übungen des Putzpersonals. Wer bei Jet Li den korrekten Hüftschwung gelernt hat, wird auch mit der Motorhaube eines BMW-"Edelrosses" (auf chinesisch: băo mā 宝马- "Schatz-Pferd" – eine akustische Annäherung an die deutsche Aussprache) wischtechnisch erfolgreich sein. Ich hatte das Vergnügen, einem Jet Li-Lanzenkampf-Double bei der Arbeit zuzuschauen. Der tauchte den Feudel nach jedem Wagen-Kontakt sekundenschnell in den Eimer: "Schon der erste Stoß ist tödlich!"

Auch mitten in den Abrissvierteln der Altstadt ist er da, der Feudel, der hier – sollte man meinen – nichts mehr zu wischen hat, weil nichts Bewohnbares mehr da ist. Aber vielleicht ist er ja gar nicht übrig geblieben, sondern bereits schon da, als Erster, in Erwartung seines neuen Arbeitsplatzes.

Übrigens: Was der Feudel für die rauminnere Sauberkeit tut, erledigt der Reisigbesen auf der Straße. Dass die beiden sich gut verstehen und Genossen im chinesischen Wortsinne sind ("tóng zhì" 同志 = "gleiches Ideal"), erkennt man daran, dass sie nach getaner Arbeit Schulter an Schulter bzw. Lappen an Ästchen an Zaun und Mauer lehnen. Ich habe solch junges Glück vielfach fotografiert: Dank dieser reinlichen Harmonie wird die Kampagne "Sauberes Beijing für ein humanes Olympia 2008" bereits jetzt putztechnisch überplanmäßig erfüllt.

zai jian.
Wei aus Beijing.
22. Februar 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Auf den Hund gekommen

Februar 2006

Auf den Hund gekommen.
Tierfreundliche Beobachtungen.





Endlich kann sich das Huhn wieder dem Eierlegen widmen und der Hahn auf seinen Misthaufen zurückkehren. Denn ab sofort fällt die Aufgabe des Jahreswerbeträgertieres dem Hund zu. Am 29. Januar 2006 begann in China mit dem Frühlingsfest das Jahr des Hundes. Jetzt wird gebellt und nicht mehr gegackert.

Wenn ich an "Hund" denke, habe ich ein Exemplar "deutscher Polizei-Schäferhund" vor dem inneren Auge. Es erübrigt sich, an dieser Stelle auf meine Hundefreundschaften einzugehen. Jedenfalls konnte ich heute bei einem Spaziergang am Zoo das bewundern, was ein Hunde-Ideal für den Chinesen ist. Da stehen am Eingang des ältesten chinesischen Tierparks (von1879) rechts und links zwei "Figurengruppen" (könnte man sagen), ca. zwei Meter hoch und aus dezent-buntem Plastik: die Inkarnation der chinesischen Hundefamilie, Papa, Mama und zwei lütte Pekinesen. Jawohl, wer hätte das gedacht – die kleinen Plattnasen mit mehr oder weniger Lockenhaar sind derzeit absolut trendy, vorzugsweise in Wollweiß oder Braun-Weiß-Scheckig. Die Zoo-Kunststoff-Skulpturen von mäßiger Kunstfertigkeit werden eifrig für Menschenfamilien-Fotos genutzt: "Liebe Tante, hier ein Foto von uns bei unserem Hauptstadtbesuch, diesmal nicht auf der chinesischen Mauer, sondern ..."

Dass der Peking-Mensch dem Berliner (bzw. Brandenburger) in seiner Hundeliebe in nichts nachsteht, fiel mir sogleich auf, nachdem ich mein Domizil im Studentenwohnheim bezogen hatte. Dort pfiff der Nordwind so heftig durch die Fenster, dass ich mich mit einem breiten Klebeband bewaffnet auf den klapprigen Schreibtischstuhl begab und an den Scheiben zu schaffen machte. Vom Stuhl aus gewährte mir das Zimmerchen im 4. Stock einen hübschen Ausblick auf eine Mini-Rasenanlage, die – wie ich bald bemerkte - sowohl von älteren Herrschaften für Taiji-Übungen als auch von noch älteren Herrschaften zum Hundeauslauf genutzt wird. Die allseits bekannte chinesische Harmoniebedürftigkeit scheint sich auf die Vierbeiner übertragen zu haben, denn sportlernde Senioren und gassigehende Mensch-Tier-Gespanne kommen sich nicht in die Quere.

Was ich allerdings viel erstaunlicher finde als die friedliche Koexistenz von Mensch und Tier, ist die sich mir darbietende Hundemode: Nicht nur "angezogen", sondern "fesch angezogen" ist der Hund. Wie gesagt, sind wollweißen Vierbeiner hoch im Kurs. Und zu weiß passt ja bunt ganz ausgezeichnet. Was trägt also der modische Hund zur Zeit? Strampelanzug in Rot-Grün-Blau-Gelb, gern auch seitlich geknöpft und von Mutti handgestrickt. Im Dezember konnte ich auch das Modell "Weihnachtsmann" (mit Bommelmütze!) erspähen. Es gelang mir sogar vor kurzem, denselben Hund in seinem roten Anzug zu fotografieren, leider war die Mütze da schon verlustig gegangen. Wie die Kleinkinder hat auch der Wauwi "hinten" einen Schlitz im Kleid. "Schnellschuss-Hose" heißt das, und es ist absolut wörtlich zu verstehen.

Ansonsten ist der hiesige Hund total friedlich. Er soll dem chinesischen Mond-Jahr (29. Januar 2006 bis 17. Februar 2007) mit seinen guten Eigenschaften viel Glück bringen, denn er ist verantwortungsbewusst, aufmerksam und sehr geduldig. Allerdings zeichnet er sich auch durch einen Hang zur Freigiebigkeit aus. Ich will bloß hoffen, dass er dabei nicht auf meinen Geldbeutel spekuliert.

zai jian.
Wei aus Beijing.
21. Januar 2006

© Mimi Productions
秘密出品

Lang - länger - am längsten

Januar 2006

Lang – länger – am längsten.
Die Nudeln des Lebens.





Die Mama meiner chinesischen Freundin hatte Geburtstag. Der wurde mit einem kleinen Festmahl gefeiert – und natürlich gab's zum Nachtisch eine Geburtstagstorte, denn die wird auch hier mit großer Freude und gleichzeitig sorgenvollem Blick auf die Hüftpartie verspeist. Und sie sah so ungesund rosa und himmelblau und sahneweiß aus wie ihre amerikanischen Schwestern. Die richtige chinesische Festtagsspeise gefiel mir viel besser, obwohl auch sie kalorienmäßig in der Rangordnung ganz oben liegt: die Lange-Leben-Nudeln.

Die Länge der Nudel versinnbildlicht die Länge des Lebens. Je länger die Nudel, umso länger das Leben – bildlich gesprochen. Deshalb ist sie die optimale Speise für jeden, der schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat und sich noch viele, viele dazu wünscht. Abgesehen davon, dass es eine Kunst ist, das Nudelgewirr auf die Stäbchen zu hieven und dann fettfleckenfrei zu verspeisen - es ist eine mindestens ebenbürtige Fertigkeit, eine Teigmasse in lange, dünne ... na – eben Nudeln zu verwandeln. Die köstlichen langen Nudeln kommen auch auf den Tisch, wenn gerade kein Geburtstag zu feiern ist.

In der Mensa guckte ich mir heute eine solche Fertigungsvorstellung an. Hinter der Essensausgabe walteten drei Nudelkünstler ihres Amtes. Selbstvergessen und sich offenbar ihrer beneidenswerten Fähigkeiten nicht bewusst, kneteten sie den Teig, teilten ihn in brotlaibgroße Partien, kneteten noch einmal – und dann zogen und zogen sie, teilten und teilten wieder, wirbelten die länger gewordenen Teiglaibe wie Springseile herum, teilten und teilten wieder – und ratzbatz, schneller als die Heinzelmännchen von Köln je hätten gucken können, verschwanden die langen Rohlinge in den riesigen Kesseln. Ich sagte es ja schon – es ist eine wahre Kunst. Und ob sie mit rechten Dingen zugeht, weiß ich nicht – schließlich bin ich in China.

Diese Nudeln heißen übrigens "lā miàn" 拉面", was soviel wie "gezogenes Weizenmehl" bedeutet. Eine recht akurate Bezeichnung, finde ich. Wenn man "la" nicht richtig, also nicht im ersten Ton ausspricht, sondern versehentlich im vierten, dem sogenannten "fallenden Ton", bedeutet "là" sowohl "übellaunig" 剌 als auch "scharf" 辣. Da die Nudel an sich ein überaus gutmütiger Geselle ist und kaum als unliebenswürdig bezeichnet werden kann, bekommt man sie bei der Bestellung in "la-vierter Ton" in sehr scharfer Sauce serviert. Auch sehr lecker – aber aufgepasst, wenn man kein Chili-Liebhaber ist.

Wie die Mensa-Nudeln so waren auch die Geburtstagsnudeln bei meiner Freundin hausgemacht. Allerdings wurde bei ihr die Nudelkunst maschinell unterstützt – von einer Nudelmaschine der Marke "Mercato" aus ... ja, aus dem Pastaland Italien! Mit "Mercato" lassen sich zwei Sorten nudeln: die zierlichere, die wir nach alter Rechtschreibung "Spaghettini" nennen, und ihre fülligere Verwandte, nach neuer Rechtschreibung als "Spagetti" tituliert. Ich erspare uns den an dieser Stelle fälligen Exkurs über die deutsche Rechtschreibreform und nerve Sie auch nicht mit dem noch unentschiedenen Wissenschaftlerstreit, ob die Nudel von Marco Polo im Reisegepäck nach Italien eingeschleppt worden ist oder ob sie die findigen Italienier selbst – lange vor ihrer "Mercato"-Maschine - entwickelten.

Für den ersten Monat im neuen Jahr wünsche ich Ihnen die besten und längsten Spaghetti, die in Potsdam aufzutreiben sind – der Rest wird sich finden.

zai jian.
Wei aus Beijing.

© Mimi Productions
秘密出品

Vom Rückwärtsgehen

Dezember 2005

Vom Rückwärtsgehen.
Erste Eindrücke aus dem seit 50 Jahren kältesten Dezember-Beijing.





Mit acht Grad unter Null – oder wie die Chinesen sagen: unter null acht Grad – hatte ich bei meiner Ankunft nicht gerechnet. Aber Winter ist Winter, und dass meine langen Unterhosen im Koffer verstaut waren, interessierte hier niemand. Abgeholt werden, das war jedenfalls prima. Auch wenn der Flieger eine Stunde Verspätung hatte. Auch wenn meine Freundin sich beim Warten auf eine Krücke stützen musste (nachdem ein Motorrad sie überrollt hatte – „aber hab’ keine Sorge, nicht so schlimm“, hatte sie mir beruhigend vor meiner Abreise gesagt). Also saß ich dann schließlich in einem überheizten Auto, das mich direkt zur Uni bringen sollte, um dort … ja was eigentlich? Eben hatte ich noch leicht übermüdet von der sehr angenehmen Herreise erzählt, als plötzlich das Auto anhielt und meine chinesische Familie aus dem Auto stürzte, das mit laufendem Motor mitten auf der Straße stand. Aha, registrierte ich wegen der ums Auto herumkurvenden zahlreichen jungen Menschen, an der Uni angekommen. Meine Familie wusste ebenso wenig wie ich, wo ich hier eigentlich hingehörte. Und deshalb rannten sie in die verschiedenen Himmelsrichtungen, um jemanden einzufangen, der sich hier auskannte. Suchwort: „weißes Gebäude“ (bái lóu 白楼) – dort hatte ich mich (ohne es so richtig zu wissen) eingemietet.

Nicht zur Auskunft zu bewegen war eine besonders dick eingemummelte Dame, die – mit leicht rudernden Armen, ansonsten aber überaus sicheren Schrittes – langsam, doch unaufhaltsam rückwärts an unserem Auto vorbeirollte. Wie ein kleiner Panzer in rosa Plüschkaputze strebte sie dem Ausgangstor zu, das sie wegen ihrer umgekehrten Laufrichtung zwar nicht sehen, sicherlich jedoch nicht verpassen würde. Während meine Familie also ausgeschwärmt war, um andere nach dem Weg für mich zu fragen, hatte ich eine kleine Verschnaufpause, um mir über das Rückwärtsgehen eigene Gedanken zu machen. Ich werde solche Verkehrtherum-Geher noch häufig treffen, denn sie bewegen sich überaus gesund: Nach dem chinesischen Prinzip des Erreichens von Vollkommenheit durch Zusammenfügung von Gegensätzen, die sich zur Ganzheit verbinden (Yīn-Yáng, 阴阳), ist es der Gesundheit sehr zuträglich, nicht nur vorwärts, sondern zum Ausgleich auch einmal rückwärts zu gehen. Hierbei sei an das Telefonkabel erinnert, das sich über die Zeit entsetzlich verknuddelt hat und nur wieder glücklich-geschmeidig wird, wenn man den Telefonhörer einfach einmal baumeln lässt – denn dann findet langsam, langsam die Linksdrehung zurück zur Rechtsdrehung und schließlich in den Zustand temporären Friedens … alles wieder im Lot.

Der Schritt an die Uni ist für mich allerdings nur ein scheinbarer Schritt rückwärts, in jedem Fall einer zu mehr Ganzheit. Darüber demnächst mehr.

zài jiàn 再见 (auf Wiedersehen).
Wèi 魏(so heiße ich hier) aus Bĕijīng 北京.

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